Passend zu meiner Diplomarbeit (Dosisanpassung bei Niereninsuffizienz unter Berücksichtigung der Teilbarkeit mittels AiDKlinik am Universitätsklinikum Heidelberg) habe ich soeben das hier gefunden:
Sind es 16.000 Tote jedes Jahr oder doch eher 58.000? Wie viele Menschen in Deutschland durch falsch dosierte Arzneimittel oder unerkannte Wechselwirkungen der Medikamente Schaden erleiden, kann niemand sagen. Offensichtlich aber wird das Thema unterschätzt. Schwer, den Überblick zu behalten: Es gibt 19491 verschreibungspflichtige Arzneimittel mit 1819 Wirkstoffen in Deutschland, durchschnittlich 45 kommen jedes Jahr hinzu. Noch schwerer, den Überblick über das zu behalten, was sie anrichten können: Sind es 16.000 Tote jedes Jahr hier zu Lande oder doch eher 58.000? Geht die Zahl der Geschädigten in die Hunderttausende oder gar in die Millionen? Niemand kann sagen, wie viele Menschen in Deutschland durch falsch dosierte Arzneimittel oder unerkannte Wechselwirkungen der Medikamente ums Leben kommen und wie viele schwere Gesundheitsschäden erleiden.
Dabei geht es nicht nur um spektakuläre Marktrücknahmen wie bei dem Fettsenker Lipobay oder dem Schmerzmittel Vioxx, sondern um das alltägliche Chaos in den Pillendosen. Von England und den USA ist bekannt, dass dort mehr Menschen an Medikamenten als im Straßenverkehr sterben. „Auch in Deutschland sind es viele Tote. Es sind noch mehr Geschädigte. So viel wissen wir“, sagt Bruno Müller-Oerlinghausen, Vorstandsvorsitzender der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft. „Es ist schlimm, dass wir keine genaueren Daten haben. Schlimmer ist aber, dass über Ursachen und mögliche Vermeidungsstrategien bisher kaum geforscht und diskutiert wird.“ Das soll sich endlich ändern.
Heute beginnt in Saarbrücken der erste deutsche Kongress über Patientensicherheit bei medikamentöser Therapie. Gefährliche Nebenwirkungen oder Wechselwirkungen sind häufig. Vier Prozent der Patienten in der Inneren Medizin werden allein deswegen aufgenommen – in Deutschland rund 88.000 jedes Jahr. Dies führt zu Kosten von 400 Millionen Euro jährlich. Die geschätzten jährlichen 58.000 Todesfälle in Deutschland gehen auf eine norwegische Untersuchung zurück. Kritiker bezweifeln allerdings, dass sich die dortigen Ergebnisse übertragen lassen. „Wir müssen aufhören, uns im Vorfeld selbst zu bekriegen“, fordert Müller-Oerlinghausen. „Ärzte weisen Zahlen zurück, reagieren beleidigt oder werfen sich Nestbeschmutzung vor.
Wir sollten endlich anfangen, wenigstens die vermeidbaren Fehler zu verhindern.“ Das Eingeständnis von Behandlungsfehlern ist unter Medizinern nicht sehr verbreitet. Wenn ein Arzt zugibt, dass die Arzneimitteltherapie mit erheblichen Risiken einhergeht und von einer erheblichen Dunkelziffer an schweren Zwischenfällen auszugehen ist, reagieren viele Doktores gereizt. Es passt nicht zu ihrem Selbstverständnis als Helfer und Heiler, dass sie Patienten mit ihrem Handeln womöglich auch Schaden zufügen. Dabei gibt es – anders als bei der Flugsicherheit – in Krankenhäusern und Arztpraxen bisher kein System zur Fehlererkennung. Selbst kompetente Ärzte können Fehler nicht vermeiden, wenn die Verfahren zur Medikamentengabe nicht gut organisiert sind. Zwölf verschiedene Medikamente nehmen internistische Patienten im Durchschnitt ein.
Daniel Grandt, Chefarzt des Klinikums Saarbrücken und Mitorganisator des Kongresses, wählt einen drastischen Vergleich: „Auch als guter Fahrer kommt man mit abgefahrenen Sommerreifen nicht durch einen Schneesturm.“ So nimmt beispielsweise jeder fünfte Patient im Krankenhaus Medikamente, ohne dass der behandelnde Arzt etwas davon weiß. Weil es dem Onkel auch geholfen habe, bekommen Mediziner in solchen Fällen oft zu hören. „Ärzte und Patienten sollten wissen, dass die Arzneimittelgabe ein Hochrisikoprozess ist“, sagt Grandt. Manche Patienten sind besonders gefährdet.
Wenn die Niere das Blut nicht mehr richtig reinigt, sammeln sich viele Medikamente im Körper an und können zu einer Arzneimittelvergiftung führen. „Jeder sechste Patient auf einer normalen Station für Innere Medizin hat eine Nierenfunktionsstörung“, sagt Walter Haefeli, Klinischer Pharmakologe am Universitätsklinikum Heidelberg. Das Problem dabei: Bei alten Menschen steigt die Kreatinin-Konzentration im Blut, die einen Nierenschaden anzeigt, verzögert an. „Eine schlanke, betagte Dame kann eine halbierte Nierenleistung haben, ohne dass es im Krankenhaus bemerkt wird“, so Haefeli. Wird wie üblich weiter therapiert, können die Folgen der schleichenden Überdosierung dramatisch sein: Das Herzmedikament Digoxin kann dann zu schweren Rhythmusstörungen führen, das Magenmittel Ranitidin zu Verwirrung, die Herpes-Arznei Aciclovir bis ins Koma. „Es folgen teure Zusatzabklärungen, bis man feststellt, dass die Patienten durch falsche Dosierungen vergiftet worden sind“, sagt Haefeli. Der Verbesserungsbedarf ist enorm.
Auf internistischen Stationen bekommen nur ein Drittel der Patienten mit eingeschränkter Nierenfunktion die richtige Dosis. Am Universitätsklinikum Heidelberg gibt es inzwischen mehr als 5000 PCs, die Ärzte bei der Verordnung unterstützen. Warnampeln zeigen an, ob ein Medikament kritisch für Nierenkranke ist oder ob andere Wechselwirkungen zu beachten sind. „Dadurch konnte die richtige Dosierung bei Nierenkranken auf 67 Prozent gesteigert werden; wenn ein Klinischer Pharmakologe auf Station ist, sogar auf 80 Prozent“, sagt Haefeli. Daniel Grandt weist auf andere Vorteile solcher Hilfen hin, etwa wenn Zulassungsbehörden vor Risiken warnen: „Man muss sicherstellen, dass diese Informationen nicht nur auf einem Schreibtisch landen, sondern allen Ärzten sofort zur Verfügung stehen.“ Aktuelles Beispiel: Vor wenigen Tagen warnte die amerikanische Zulassungsbehörde FDA vor einigen Neuroleptika. Unter den Mitteln gegen Verwirrung kam es bei alten Patienten gehäuft zu Todesfällen. Bruno Müller-Oerlinghausen fordert von Politik und Öffentlichkeit, das Thema nicht mehr so stiefmütterlich zu behandeln: „Für jedes molekulare Detail gibt es Forschungsgeld, aber pharma-unabhängige Forschung zur Arzneimittelsicherheit wird bisher kaum gefördert.“
Quelle: Süddeutsche Zeitung, Werner Bartens